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Auszug aus dem Buch:
Reetz. Ein Dorf in der Brandtsheide 1861-1961:
Der Erste Weltkrieg

 

Albert Senst

Die Mobilmachung

In jener Zeit war der Gemeindediener für die Verbreitung von Nachrichten zuständig. In den Straßen hatte er seine festen Plätze. Er stellte sich hin, läutete seine Glocke und wenn die Menschen sich versammelt oder ihre Fenster aufgemacht hatten, las er seine Bekanntmachungen laut vor. Am 1. August 1914 läutete der Gemeindediener Schröter seine Glocke und gab eine schwerwiegende Nachricht bekannt: die Mobilmachung Deutschlands. Es war der Anfang von mehr als vier opferreichen Jahren.Schon am folgenden Tag um 7 Uhr abends fand in der Reetzer Kirche ein Abschiedsgottesdienst für die ausziehenden Soldaten und ihre Ehefrauen statt.

"Unter lautloser Stille, die nur durch das trauervolle Schluchzen der betrübten Frauen unterbrochen wurde, wies der Geistliche unter Anschluß an Psalm 46 in seiner einleitenden Ansprache darauf hin, daß wir über Erwarten schnell in wirkliche Kriegsnöte hineingekommen seien. Nachdem unser teurer Landesvater uns 261Jahre hindurch mit aller Anstrengung den Frieden gewahrt habe, habe nun doch Rußland einen dreisten Angriffskrieg in frevler Ungerechtigkeit gegen uns ins Werk gesetzt, und Frankreich stehe ihm zur Seite. So gingen wir denn sehr ernsten Zeiten entgegen. Aber sowohl die Hinausgehenden, wie die Zurückbleibenden müßten ihr ganzes Vertrauen auf Gott setzen, der uns auch vor 1002 Jahren so gnädig durchgeholfen habe. Die tapferen Krieger sollten wissen, daß man für sie in der Heimat bete und Gaben der Liebe bereite; für die Frauen und Kinder der nicht mehr Zurückkehrenden zu sorgen, erkenne man als heilige Pflicht an. Der gemeinsame Gang zum hl. Abendmahl, der für manchen der letzte sei, vereinige als wahrhafte Kommunion die Ausziehenden und Zurückbleibenden untereinander und mit Christus. So geschehe dieser Feldzug mit Gott für Kaiser und Reich! Daran schloß sich eine ebenso würdige und ernste wie erquickende Feier des hl. Abendmahles an, an der sich über 100 Krieger nebst Frauen beteiligten. Beendigt wurde die erhebende Feier durch unser machtvolles stärkendes Reformationslied ‘Ein feste Burg ist unser Gott‘."
Dieses alte Lutherlied wurde praktisch zum Kampflied der Deutschen im Ersten Weltkrieg. Die Deutschen glaubten (wohl wie die anderen Völker auch) Gott fest auf ihrer Seite zu haben. Am 27. August 1914 veröffentlichte das Zauch-Belziger Kreisblatt das Gedicht "Das Soldatenkind".
Ruth kniet im Bettchen - vier Jahre ist sie alt -
Im weißen Hemdchen die kleine Gestalt.
Zum Beten gestaltet die Hände fromm,
Soll Beten, daß Vater bald wiederkomm´!
"Mutti," sagt Ruth, "ich glaube, heut´ -
Heut´ hat der liebe Gott keine Zeit!"
Und mit froh lächelnder Zuversicht
Die kleine Soldatentochter spricht:
"Der liebe Gott ist heut´ nicht zu Haus,
Der ist mit unseren Soldaten aus!"

Die Evangelische Kirche bot nicht nur Trost, sondern sie bejahte den Krieg als eine Erneuerung, einen Aufbruch moralisch-sittlicher Macht. Patriotische Pflicht und christliche Tugend wurden ein und dasselbe betrachtet.Gleichzeitig schürte das Kreisblatt den Haß gegen Deutschlands Kriegsgegner. Am 20. August 1914 wurde das Gedicht "Soldatenlied", geschrieben von einem "Landwehrmann", veröffentlicht.
Doch auch nach Rußland
Ziehn unsere braven Reiter hin
Zu uns nach Deutschland
Darf keiner rin!
Ja, darum Reiter, Reiter, pack! pack! pack!
Immer zu mit beiden Händen!
Und erstich das Lumpenpack,
Doch vor allem den Kosack!
Wenn wir nicht da sind,
Dann hat der Russe großen Mut
Badet in Kinder-
Und Weiberblut...

Und über die Briten hieß es am 8. Oktober:

Du mit dem Kainsmal, britann‘sche Brut
Aus Neid Verräter am german‘schen Blut.

Pfarrer Noack berichtet: "Viele Krieger meinten, daß sie nach sechs (!) Wochen wieder da sein
würden." 1919 veröffentlichte der Reetzer Pfarrer Johannes Noack ein Kriegsgedenkbuch, das uns einen Einblick auf die Auswirkungen des Krieges auf Reetz ermöglicht. "Zuerst war die Stimmung froh und zuversichtlich, wenn auch ernst." Eine Welle der Opfer- und Hilfsbereitschaft schwappte über das Land und Reetz stellte keine Ausnahme dar. Am Sonntag, den 9. August versammelte sich der Reetzer Frauenverein im Mehlitzschen Gasthof.
"In Ansehung der Kriegslage wurde beschlossen, die Spielschule vorläufig aufzuheben, dafür aber aus den Mitteln des Frauenvereins Wolle zu kaufen und für die ausgezogenen Krieger Strümpfe und Pulswärmer zu stricken, entweder zu Hause oder gelegentlich bei einer Zusammenkunft im Gasthause. An bedürftige Kriegerfamilien sind später Unterstützungen zuzahlen. Es wurden noch allerlei Mitteilungen und Anregungen gegeben bezüglich Erntearbeiten, Ausbildung von Kriegskrankenpflegerinnen u. a. m."

Und am 26. August 1914 berichtete das Zauch-Belziger Kreisblatt:
"In sehr opferwilliger Weise beteiligt sich auch die Gemeinde Reetz, namentlich der hiesige Frauenverein, an den Liebesgaben für unser tapferes Heer. Bisher gingen an das Rote Kreuz für unsere lieben Verteidiger von hier folgende Sachen ab: 22 Flaschen Kirschsaft, 5 Flaschen Johannisbeersaft, 3 Flaschen Himbeersaft, 6 Glas Gelee und Honig, 14 Wollhemden, 3 Unterhosen, 10 Taschentücher, 63 Paar Strümpfe, 18 Paar Pulswärmer, 30 Pfund Speck, 4 harte Würste, Hosenträger, Briefpapier, 2 Kisten Zigarren u. a. Schön ist es, daß gerade auch die nicht so Wohlhabenden an diesen Spenden sich freudig beteiligten. Die nächste Frauenversammlung, dem jetzt 96 Frauen angehören, findet am 27. September statt. Es steht zu hoffen, daß die noch fernstehenden Frauen in dieser ernsten Zeit ihren Beitritt vollziehen und mitarbeiten werden."
Die ersten GefallenenDer naive Optimismus der ersten Monate war schnell verflogen. Schon im Oktober traf die Nachricht des ersten Opfers aus der Kirchfahrt Reetz ein, Wilhelm Schmidt aus Reppinichen. Am Totensonntag wurde die erste Trauerfeier in der Reetzer Kirche gehalten, für den 26-jährigen Friedrich Kuhle aus Reetzerhütten. Im Dezember wurde das Dorf durch den Tod zweier Reetzer geschockt. In der ersten Kriegszeit war Hermann Kersten mit der Ausbildung von Rekruten beschäftigt gewesen, rückte dann Anfang November mit einer Munitionskolonne des 1. Garde-Reserve-Feldartillerie-Regiments in Polen ein. Am 20. Dezember wurde er durch eine Schrapnellkugel in der Nähe von Tomaszow getötet. "Seinen Grabhügel am Wege von Lubocz nach Rzecznza schmückt ein Holzkreuz mit Immergrün." Er hinterließ seine Eltern, seine Frau und zwei Kinder. Hermann Kersten war 32 Jahre alt. Willi Kühne, Sohn des Müllers, fiel am Heiligen Abend. Kühne, der beim 20. Reserve-Infanterie-Regiment, 2. Kompanie diente, hatte zuerst im Westen gekämpft, kam aber im Dezember nach Polen. Noch am 18. Dezember hatte er einen Geburtstagsgruß an seinen Vater geschickt. Er wurde durch eine russische Granate getötet, 25 Jahre alt. Für die Gefallenen hielt Pfarrer Noack eine Trauerfeier, an der der Kriegerverein meist teilnahm. "Je länger der Krieg wütete, desto schmerzlicher wurden die Trauerfeiern, durchklungen von den heißen Tränen und wehen Seufzern der betroffenen Familien." (Noack) Bald verschwanden solche Gedichte wie "Seliger Soldatentod" (29.10.1914) aus dem Kreisblatt.
Schön ist‘s und süß, den Heldentod
Fürs Vaterland zu sterben
Mit warmem Herzblut purpurrot
Das Feld der Ehre färben...

Aus den erwarteten sechs Monaten wurden viele und die Zahl der Todesnachrichten nahm zu.

Der Krieg änderte radikal die Situation der ländlichen Bevölkerung. Schon im Oktober 1914 erfolgte das Verbot der Verfütterung von Brotgetreide. Es folgte ein Massenschlachten von Schweinen, das zwar den Bauern kurzfristig Profite bescherte, die Preise aber in den Keller trieb. Vom 25. bis 31. Januar 1915 wurden alle Getreide- und Mehlvorräte beschlagnahmt. Am folgenden Tag wurde die Brotkarte eingeführt, die den "Friedensverbrauch" von Brot um mehr als die Hälfte herabsetzte. Um Hunger unter der Bevölkerung zu vermeiden, wurden Anfang 1916 Höchstpreise festgelegt, aber die Maßnahme bewirkte das Gegenteil von dem, was beabsichtigt war. Der Bauer zog seine Produkte von dem offenen Markt zurück und verkaufte sie für wesentlich höhere Preise woanders.Es folgte die schrittweise Einführung der Zwangswirtschaft. In Februar 1916 wurde die Butter- und Fettkarte eingeführt. Im Herbst des Jahres, berichtet Pfarrer Noack, "fing die Fettnot an, die im Laufe des Krieges immer schlimmer wurde." Am 22. März 1917 gab der Königliche Landrat Tschirschky bekannt: "Für die Woche vom 25. bis 31. März werden auf jede Speisefettmarke 90 Gramm Butter verabfolgt." Zwei Wochen später wurde die Ration auf 70 Gramm Butter herabgesetzt, zwei Wochen darauf gar auf 60 Gramm Butter "bzw. Margarine".Butterfässer an allen Bauernhöfen wurden amtlich versiegelt. Die Bäuerinnen erhitzten die Plomben, lösten sie ab, und brachten sie nach dem Buttern wieder an. Das Siegel wurde verstärkt. Manche Bäuerin molk die Kuh nicht ganz ab, um nach der Milchablieferung aus der restlichen Milch Butter zu machen. Schließlich wurde so gut wie jedes landwirtschaftliche Produkt von der zentralen Bewirtschaftung erfaßt. Es gab die Reichsgetreidestelle, die Reichskartoffelstelle, die Reichshülsenfruchtstelle, die Reichsstelle für Gemüse und Obst, die Reichszuckerstelle, die Reichsfleischstelle, die Reichsstelle für Speisefette, die Reichsverteilungsstelle für Eier und den Reichskommissar für Fischversorgung.Die Ernteerträge von den ausgelaugten Böden sanken ständig. Die englische Blockade verhinderte den Import von Kunstdünger, von dem die deutsche Landwirtschaft abhängig war. Die Zahl der gehaltenen Schweine sank um mehr als 50% im Vergleich zu der Vorkriegszeit und das durchschnittliche Schlachtgewicht betrug nur die Hälfte des üblichen Gewichts. Während die Zahl der Rinder stabil blieb, reduzierten sich die Mengen des produzierten Fleisches und der Milch erheblich. Schon vor dem Krieg hatte es regelmäßig Musterungen der Pferde gegeben. Nun waren viele Pferde eingezogen worden, die restlichen waren schlecht ernährt. Haferernten wurden sofort beschlagnahmt, um die Versorgung der Heerespferde zu sichern. Vor dem Krieg hatte das Deutsche Reich vier Millionen Tonnen Kraftfutter importiert. 1917 waren es nur noch 185.500 Tonnen. Pferde und Rinder erhielten Laub als Futter. Manche Tiere verhungerten.Die englische Blockade der deutschen Häfen zeigte bald Wirkung. Schon 1915 wurden Textilien und Leder knapp, ebenso Lebensmittel. Kaffee, Tee und Kakao gab es schon gar nicht mehr. Schon 1915 ging es mit den "Hamsterfahrten" der städtischen Bevölkerung zu den Dörfern los. Besonders dramatisch wurde die Ernährungslage im Winter 1916-1917, im sogenannten "Kohlrübenwinter". Im letzten Kriegswinter mußten manche in der Brandtsheide aus Mangel an Petroleum und anderem Leuchtöl auf das alte Kienspanlicht zurückgreifen.Sicherlich traf diese Lebensmittelnot die Landbevölkerung weniger als die städtische, aber ohne Wirkung blieb sie nicht, weder physisch noch psychologisch.

"Das Interesse für die Feldgrauen ließ allmählich nach. Die Liebesgaben, die 1914/15 aus der ganzen Gemeinde und besonders aus dem Frauenverein reichlich und überreichlich geflossen waren, wurden immer zaghafter und dürftiger. Im allgemeinen dachte jeder bloß noch daran, sein eigenes Leben zu retten." (Noack)
Das Hintergehen der Gesetze der Zwangswirtschaft wurde zum normalen und oft notwendigen Verhalten in den Kriegsjahren. Die festgelegten Preise waren so niedrig, daß die bäuerliche Familie im Hinblick auf die allgemeine Inflation nicht davon leben konnte. Also wurde "hintenherum" verkauft, wo es nur ging.Als immer mehr Männer in den Krieg zogen, fiel eine immer größere werdende Last auf die Zurückgebliebenen, d.h. auf die Frauen, die älteren Männer und auch die Kinder.

"Die Bildung der Schulkinder nahm erschreckend ab, kein Wunder, wenn statt dreier Lehrer oft nur einer da war und dieser unter der Arbeitslast fast zusammenbrechen mußte. Die Lehrstoffe erforderten oft doppelte und dreifache Zeit. Für alle möglichen land- und kriegswirtschaftlichen Arbeiten wie Pflügen, Streufahren, Holzholen, Kartoffelbuddeln, Laubheu- und Bucheckernsammeln u. a. wurden die Kinder ausgenutzt. Angestrengt, ja, ermattet saßen sie in der Schule; zu häuslichen Arbeiten war keine Zeit; oft fehlte die Familienzucht, weil der Vater ferne war." (Noack)

Schon in August 1914 war der Küsterlehrer Hermann Gottschalk zur Armee einberufen worden. Im November 1916 rückte auch Lehrer Eberhart Weitling ein. Erst im September desselben Jahres wurde er durch Emil Schulze ersetzt. Noch 1916 war in der Schule eine Siegesfeier für die militärischen Erfolge des alliierten Österreich-Ungarn in Montenegro angeordnet worden. Auf der anderen Seite mußten die Herbstferien in jenem Jahr verlängert werden, um den Kindern die Möglichkeit zu geben, in der Kartoffelernte zu helfen. Im November 1916 sammelten die Reetzer Schulkinder elf Zentner Pflaumenkerne.Überall war Personal knapp. Vom 1. Oktober 1916 wurde an auch Pfarrer Noack "bis auf weiteres" beurlaubt, damit er die Stelle als Prorektor am Königlichen Lehrerseminar in Havelberg übernehmen konnte. Als Vertreter wurde Pastor Otto, der bisher in Schneidemühl tätig war, eingesetzt. Pastor Otto wurde aber schon im April 1917 zum Pfarrer in Neuendorf berufen. Erst am 30. September 1917 wurde Pfarrer Noack von seiner Tätigkeit in Havelberg entbunden und konnte nach Reetz zurückkehren.Die Kinder, die Frauen und die Männer über 45 mußten die Arbeit schaffen, die früher die jüngeren, kräftigeren Männer geschafft hatten, und zwar unter erheblich schwierigeren Bedingungen als in der Vorkriegszeit. Um den Mangel an Arbeitskräften auszugleichen, wurden russische Kriegsgefangene in der Landwirtschaft eingesetzt, wobei die größeren Landwirtschaften wahrscheinlich am meisten davon profitierten. Wann sie zum Einsatz gekommen sind ist nicht festzustellen, aber ab März 1917 wurde im Zauch-Belziger Kreisblatt immer öfter von der Flucht russischer Kriegsgefangenen berichtet.Die KriegsmoralGelegentlich berichtete das Kreisblatt über die Taten Reetzer "im Felde". "Für tapferes Verhalten vor dem Feinde erhielt der Gefreite Hermann Mittelhaus vom Pionier-Bataillon Nr. 20 am 31. Oktober das Eiserne Kreuz II. Klasse." Ende des Jahres wurde dem Landsturmmann Hermann Schmidt dieselbe Auszeichnung verliehen. Aber häufiger waren es Todesanzeigen.Es wurde versucht, die Moral der Reetzer nicht sinken zu lassen. "In den Predigten wurde stets auf den Krieg Bezug genommen und zum Aushalten in Geduld und Gottvertrauen ermahnt, solange noch Hoffnung auf ein günstiges Ende war." (Noack) Das Kreisblatt berichtete am. 1. Februar 1917:

"Zur Geburtsfeier Sr. Majestät des Kaisers wurde, der jetzigen ernsten Zeit entsprechend, am Sonnabend, abends 6 Uhr, in hiesiger Kirche ein Gottesdienst abgehalten, woran auch die Kriegervereine von Reetz und Reetzerhütten teilnahmen. Nach dem Eingangsliede: ´Hilf uns Herrin aller Dingen‘, und der Liturgie folgte das Predigtlied: ´Vater, kröne du mit Segen.‘ Herr Pastor Otto hatte den Text aus Matth. 22, 15-22 der Feier zu Grunde gelegt. Anschließend sang der Kinderchor das ‘Niederländische Dankgebet‘. Nach dem Segen beschloß das Lutherlied: ‘Ein feste Burg ist unser Gott‘, welches von den Anwesenden bis zu Ende stehend gesungen wurde, die Feier. Der an der Kirchentür gesammelte Beitrag findet für unsere Soldaten Verwendung. Nach der kirchlichen Feier versammelte sich der Kriegerverein in dem Lokal des Gastwirts Friedrich zu einer kurzen Zusammenkunft. Der Vorsitzende A. Wolter hielt eine kurze Ansprache, die mit einem Hoch auf den Kaiser schloß."
Pfarrer Noack stellte beunruhigende Auswirkungen des Krieges auf die Reetzer Gemeinde fest.
"Die Kirchlichkeit hat im Laufe des Krieges nicht zugenommen, sondern ist im Gegenteil noch abgesunken; nur in Reppinichen war zeitweilig eine kleine Besserung spürbar. Im allgemeinen litten Religiosität und Gottesglaube durch den Krieg aufs schwerste. Selbst gläubige Christen kamen ins Zagen und fühlten sich schwer erschüttert."
Die Zahl der Taufen ging von 72 im Jahre 1914 bis auf 30 im letzten Kriegsjahr zurück. Ähnlich war es mit den Trauungen. Dafür stieg die Zahl der Todesfälle. Und, "Betrug und Wucherei nahmen zu. Die Achtung vor den heiligen 10 Geboten, besonders vor dem 3., 6. und 7., schwand bedenklich." Vielsagend war seine Beobachtung: "Die jahrelange Entfernung zwischen Krieger und Ehefrau war nicht immer unschädlich." Das Leben im Dorf veränderte sich unwiderruflich.Der Staat forderte seine Bürger auf, immer wieder Kriegsanleihen zu zeichnen, wodurch der Krieg zum großen Teil finanziert wurde. Insgesamt gab es neun Kriegsanleihen (die letzte noch in September 1918), die 98 Millionen Mark einbrachten. Im Zauch-Belziger Kreisblatt wurden sie angepriesen als "die Waffe der Daheimgebliebenen" (7. September 1916). Die Kriegsanleihe sei, "Das sicherste Staatspapier der Welt". (22. September 1916) Es hieß auch, "Die Kriegsanleihe ist die Saat - der Friede die Ernte." (29. September 1917) In Reetz liefen die Kriegsanleihen über die Schule. Bei der 4. Kriegsanleihe im März 1916 zeichneten 44 Reetzer insgesamt 890 Mark. Bei der 5. Kriegsanleihe im Herbst 1916 zeichneten 17 Schulkinder für insgesamt 600 Mark. Am 14. April 1917 veröffentlichte das Zauch-Belziger Kreisblatt einen "Aufruf zum Endkampf", unterzeichnet u. a. vom Landrat Tschirschky, Freiherr Oppen von Huldenburg und Graf von Fürstenstein. "Beweist die Welt mit flammenden Riesenzahlen, daß Deutschland unbesiegbar ist. Mitbewohner des Kreises Zauch-Belzig, euer Kaiser und König erwartet von euch daheim alte Treue, altes Vertrauen und alte Opferbereitschaft." Die Anleihen verschoben die Finanzierung des Krieges auf die Zeit nach dem Krieg. Es wurde dabei auf einen deutschen Sieg und eine Kriegsentschädigung durch die Kriegsgegner spekuliert.Sammelaktionen wurden durchgeführt, um das Heer zu versorgen. Fahrradreifen, alte Wolldecken und andere Textilien wurden gesammelt, sogar Ehe- und andere Goldringe mußten geopfert werden. "Ich gebe Gold für Stahl." Türklinken wurden genauso eingesammelt wie Kupferkessel, Firmenschilder und schließlich auch Kirchenglocken. Es kann nicht gerade ermutigend gewesen sein, als 1917, gemäß Paragraph 1 der Bundesratverordnung über die Sicherung von Kriegsbedarf von 24. Juni 1915 und im Auftrag des Kriegsministeriums, zwei der Kirchenglocken aus dem Reetzer Kirchturm entfernt wurden, um für Kriegszwecke verwendet zu werden. Eine war die, die General Adam Friedrich von Brandt hat 1748 umgießen lassen, weil sie einen Sprung hatte. Dabei erlaubten sich einige Reetzer Jugendliche bei dem Anlaß einen Spaß. Die beiden Glocken, jeweils 27 und 8 Zentner schwer, waren aus dem Schallhirn des Turmes geworfen worden. In der Nacht versteckten die Jugendlichen die kleinere Glocke unter der größeren. Ein Gendarm wurde geholt in dem Glauben, die kleine wäre gestohlen. Er fand aber die versteckte Glocke und die Jugendlichen bekamen eine Ordnungsstrafe. Dem Ende entgegenVieles spricht dafür, daß obwohl der Glauben an einen Sieg noch vorhanden sein mochte, die Last des Kriegsalltags noch zunahm. "Das Klagen über das unzureichende Essen wurde immer stärker; die Widerstandskraft des Leibes und der Seele ließ nach", schrieb Pfarrer Noack. Am 27. Mai 1917 mußte die Reetzer Schule geschlossen werden wegen der Erkrankung von 80 Schulkindern an Masern. Im Oktober mußte der Wiederbeginn des Unterrichts verschoben werden wegen Ruhrerkrankungen. Am Nachmittag des 10. Februar 1918 in der vollbesetzten Reetzer Kirche, feierten die Reetzer einen Dankgottesdienst anläßlich des am vorigen Tage mit der Ukraine (der die Rolle eines deutschen Satellitenstaates zugedacht war) zustande gekommenden Friedensabkommens.
"Die Kriegervereine nahmen teil, Gesänge zum Lobe Gottes erschallen, und manches Herz fühlte sich von Dankbarkeit bewegt. Die Schriftlesung erfolgte aus dem 118 Psalm. Verschönt wurde die erhebende Feier durch das von Schulkindern bestens vorgetragene Lied: ´Gottlob, nun ist erschollen das edle Fried- und Freudenwort‘. In der Ansprache wies der Ortsgeistliche daraufhin, an Psalm 103, 1-2 anknüpfend, daß nun die Fülle der Kriegserklärungen von dem ersten Friedensschlusse abgelöst sei. Wir verdanken dieses hochbedeutsame Ereignis nächst Gott der Tapferkeit unserer Feldgrauen, unter denen auch mehrere aus Reetz in Galizien im Mai 1915 fielen. Zwar im Westen steht noch schweres Gewölk, und manches Herz ist von Sorge erfüllt. Aber das Morgenrot der Friedenssonne ist nun am östlichen Himmel sichtbar geworden, und der Allmächtige erquickt unsere gebeugten Gemüter mit neuem Glauben, neuer Kraft zum Durchhalten, neuer Hoffnung. Ein reichliches Dankopfer beschloß die allen Teilnehmern gewiß unvergeßliche Feier."
Sie war schließlich nicht nur eine Friedensfeier, sondern auch eine Siegesfeier. In Februar war dem Reetzer Gemeindevorsteher Haseloff das Verdienstkreuz für Kriegshilfe Allerhöchst verliehen worden. Am 27. März 1918 fand um 8 Uhr im Viktoriagarten (später Fläminggarten) in Belzig die letzte Musterung des Krieges statt, für den Jahrgang 1900 sowie eine Nachmusterung der zeitweilig zurückgestellten des Jahrgangs 1898.Pfarrer Noack schrieb: "Besonders bewegt und gedemütigt waren die, deren Ehemänner oder Kinder noch im letzten Vierteljahr den Tod erduldet hatten." Spätestens nach dem Scheitern der deutschen Frühjahrsoffensive, der sogenannten "Ludendorff-Offensive", waren die Aussichten auf einen erfolgreichen Abschluß des Krieges zu Ende. Im Sommer 1918 waren die schlecht ernährten und nicht mehr ausreichend bewaffneten deutschen Soldaten nicht in der Lage, den Ansturm der noch gut ausgerüsteten Franzosen und Engländer und den frischen amerikanischen Truppen standzuhalten. Nach der Schlacht bei Amiens am 8. August, dem "schwarzen Tag des deutschen Heeres", an dem die Deutschen Verluste von 48.000 Soldaten hatten, darunter 33.000 Vermißte, war die deutsche Armee nicht mehr in der Lage, die Offensive zu ergreifen. Bei einer Konferenz im Hauptquartier in Spa erklärte die Oberste Heeresleitung die Fortführung des Krieges für aussichtslos. Am 29. September 1918 forderten Hindenburg und Ludendorff ein sofortiges Waffenstillstandsangebot. Gerade am diesem Tag war das letzte Reetzer Kriegsopfer zum letzten Mal gesehen. Danach galt Otto Leps, der seit Juli 1915 gedient und in Serbien und Frankreich gekämpft hatte, als vermißt. Zwei Wochen zuvor war Paul Senst bei Verrennes verschwunden. Der letzte Reetzer, der gefallen war, war der 33-jährige Hüfner Gustav Galle, der erst im Juli zu Hause in Urlaub gewesen war. Er wurde am 3. September durch Granatsplitter schwer verwundet und ist am gleichen Tag gestorben. Er wurde in Frankreich begraben. Die Trauerfeier in der Reetzer Kirche, die letzte des Krieges, fand am 27. Oktober statt. Pfarrer Noack hielt die Trauerpredigt über Johannes 14, 1-6.Es wurden auch mehrere Familienabende mit Lichtbildern veranstaltet, die den Reetzern die Kriegsereignisse näher bringen und ihren Patriotismus stützen sollten. Der letzte war noch am 5. November 1918, zwei Tage nach dem Matrosenaufstand in Kiel und der Bildung des ersten Soldatenrates und nur sechs Tage vor dem Waffenstillstand. Ausgerechnet am 9. November berichtete das Zauch-Belziger Kreisblatt darüber:
"Im dicht besetzten Friedrich´schen Gasthause...fand...ein Familienabend statt, der durch passende Gesänge und Gedichte verschönt wurde. Die Lichtbilder führten uns in die erste Zeit des Krieges zurück, wo Hindenburg seine glänzenden Erfolge in Ostpreußen errungen hat. Die grausigen Zerstörungen der wilden Russenscharen und die aufopfernden Heldentaten unserer Feldgrauen wurden an der Hand der Lichtbilder durch den Ortsgeistlichen ausführlich dargestellt. Angesichts des Kaiserbildes wurde das Treuegelöbnis zu Kaiser und Reich erneuert, die in diesen trüben Tagen unser besonders bedürfen. Der Abend, der mit ’Eine feste Burg‘ begonnen hatte, wurde mit dem gemeinsamen Lied ’Deutschland, Deutschland über alles‘ geschlossen."
Am 9. wurde der Verzicht Wilhelms des II. auf den Thron bekanntgegeben.Die Grippenwelle, die 1918 grassierte, traf auch Reetz und die Schule. Auch die Schulen in Reppinichen und Medewitz, mußten am 30. Oktober 1918 bis auf weiteres geschlossen werden. Als die Schule am 24. November 1918 wieder eröffnet wurde, war der Krieg verloren, die Monarchie gestürzt, die Republik ausgerufen.Am 12. November 1918 wurde das Kreishaus in Belzig unter die Verwaltung des Arbeiterrates gestellt, dessen Vorsitzender der Belziger Maler Oskar Preuß war. Landrat Herr von Tschirschky wurde vorläufig seines Amtes enthoben. Drei Tage später forderte der Belziger Arbeiterrat alle Städte und Gemeinden auf, Arbeiter- bzw. Bauernräte zu bilden,die für die Einbeziehung aller Waffen und die Bekämpfung des Wuchers verantwortlich sein sollten.9 Es sind noch keine Hinweise gefunden worden, daß ein Arbeiter- bzw. Bauernrat in Reetz gebildet wurde. Die Amtszeit des Arbeiterrates in Belzig dauerte sieben Wochen. Die Auswirkungen des KriegesIm Laufe des Weltkrieges waren 228 Reetzer Männer einberufen, etwa ein Viertel der Einwohner des Dorfes. 218 davon "standen im Feindesland". 32 waren gefallen und fünf waren vermißt. Keiner der Vermißten kehrte zurück. Mindestens 19 waren verwundet worden. Einer kehrte mit zerrütteten Nerven nach Hause. Als der Krieg aus war, waren 18 Reetzer in Kriegsgefangenschaft. Zehn Reetzer Frauen waren Kriegswitwen, 16 Kinder hatten den Vater verloren. Keine Familie blieb vom Krieg verschont. Und wenn man die Verwandtschaft aus anderen Gemeinden hinzurechnet, waren die Verluste unermeßlich. In der ganzen Parochie kehrten 92 Männer nicht wieder. Am härtesten geprüft, war wohl Mauermeister Friedrich Senst, von dem drei Söhne, Albert, Ernst, und Otto gefallen waren. Sein Sohn Paul war vermißt und Franz saß seit dem 4. März 1915 in Frankreich in Gefangenschaft. Pfarrer Noack fragte: "Ob die Regierenden und sonst Verantwortlichen, die im Juli 1914 diesen Krieg so schnell herbeiführten, auch nur den 10. Teil all dieses Herzeleids vorausbedacht haben?" Er faßte die Auswirkungen des Krieges auf Reetz, wie er sie beurteilte, zusammen:
"So hat der Weltkrieg - ganz abgesehen von seinem unglücklichen Ausgang und den ungeheuren allgemeinen Schädigungen - auch unsere Gemeinde in den meisten Beziehungen schwer erschüttert und benachteiligt. Gebeugte Witwen, trauernde Eltern, vereinsamte Kinder, verwahrloste Wirtschaften, Verarmung an Wissen, Mangel an Glauben und sittlicher Bildung, begierige Unzufriedenheit, böse Arbeitsscheu, wilde Vernügnungssucht, das sind auch hier einige Folgen des verwüstenden Weltkrieges."
Und er vertritt die Ansicht vieler Deutscher der Zeit, die glauben, aus der Niederlage etwas Positives zu gewinnen.
"Auf den Trümmern des alten, einst so großen Deutschland, wo jetzt Geldwert und Gewerbefleiß, Eisenbahnverkehr und Handel, Zukunftshoffnung und Geistesbildung am Boden liegen, gilt es nun, ein neues, besseres, edleres Deutschland aufzurichten."
KriegerdenkmalTrotz all der Geschäftigkeit und Veränderungen im Dorfe hatte man den Krieg und die von ihm geforderten Opfer nicht vergessen. Wie überall in Deutschland, wurde auch in Reetz der Bau eines Kriegerdenkmals vorangetrieben. Wegen des Standortes des Kriegerdenkmals kam es zum Streit zwischen Pfarrer Noack und Franz Wernicke gekommen sein, wobei der Gemeindevorsteher sich durchsetzen konnte. Am 6. Mai 1923 war es dann so weit.
"Denkmalsweihe in unserem Dorf! Allen Widerstrebenden zum Trotz! Über dem alten Friedhof, auf dem das Denkmal steht, hat der Frühling den ganzen Glanz der Lieblichkeit gebreitet. Ein Grünen und Blühen rings um die alte, schöne Feldsteinkirche mit ihrem massigen Turm, als gäbe es kein Sterben und Vergehen und doch haben die Glocken die ganze Gemeinde zur Gedächtnisfeier zusammengerufen. Geschlossen rücken die Vereine unter den Klängen eines Trauermarsches von der Friedenslinde heran und nehmen am Denkmal Aufstellung, je zwei Fahnen rechts und links vom verhüllten Stein. Die ganze Südseite des Friedhofs ist schwarz von Menschen. Und dann klingt es über den Platz, vom gemischten Chor gesungen: ‘Wir treten zum Beten vor Gott, den Gerechten‘, Begrüßungsworte des Gemeindevorstehers Wernicke an alle von nah und fern Erschienen folgen. Und dann ein Vorspruch von Herrn Lehrer Breitsprecher aus Medewitz geschrieben und von Herrn Lehrer Lehmann gesprochen. Ich habe selten etwas Ergreifenderes gehört. ‘Eine feste Burg ist unser Gott‘ leitet über zur Weiherede. Der alte ehrwürdige Pfarrer aus Neuendorf, Herr Otto, der den Krieg von 1870/71 schon als elfjähriger Knabe miterlebt hat3, schöpft aus der ganzen Fülle seiner reichen Erfahrung. Aus seinen Worten verdient vor allem, das festgehalten zu werden, daß es nur anders und besser werden kann mit unserem armen geknechteten Volke, wenn unsere Jugend richtig erzogen wird. Körper, Geist und Seele müssen gestärkt und gestählt werden. So wird das zukünftige Geschlecht uns wieder ein freies Vaterland schaffen. Wann? Wer weiß es. Mit den Worten: ‘Den Gefallenen zum Gedächtnis, den Lebenden zur Anerkennung, den Künftigen zur Nacheiferung!‘ fällt die Hülle des Denkmals. Ein Lied ‘Heldengruß‘ des Männergesangvereins und ein Gedicht: ‘Den jungen Gefallenen‘ folgen. Und nun die Ansprachen des Herrn Hauptlehrers Gottschalk, des Herrn Rittmeisters von Schwerin und des Amtsvorstehers Sinast. Es würde zu weit führen, wollte man ihre wirkungsvollen Reden hier niederschreiben. Man mußte nur vor sich hinblicken, nur so vor sich hin, denn beim Zurseitesehen gewahrte man weinende Frauen und auch Männer, die beim Gedenken an ihre Toten bitterer Schmerz aufs neue überfiel. Nochmals gemischter Chor: ‘Ich kenn einen hellen Edelstein‘ und ein Gedicht ‘Gefallen: ein Mann‘. Dann übergab Herr Lagerverwalter Schulze namens des Denkmalauschusses der politischen Gemeinde das Denkmal. Herr Gemeindevorsteher Wernicke übernimmt es und stellt es unter der Schutz der ganzen Gemeinde. Eine Fülle von Kränzen wird am Denkmal niedergelegt. Sie sollen, wie das Denkmal selbst, den 43 Gefallenen ein sichtbares Zeichen der Dankbarkeit sein. Unter den Klängen des alten Soldatenliedes ‘Ich hatt einen Kameraden‘ rücken die Vereine wieder ab. Von Westen her ziehen schwarzdunkle Gewitterwolken herauf. Es grollt in den Lüften. Ehrensalut der toten Helden!"
1 Es war 26 Jahre her seit Kaiser Wilhelm II. den Thron bestiegen hatte. Seit dem letzten Kriege waren 43 Jahre vergangen.
2
Bei den Befreiungskriegen gegen die Armeen Napoleons.
 

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